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Sittenwidrige Härte wg. Suizidgefahr und hohem Alter
Räumungsvollstreckung
02.12.2020 (GE 20/2020, S. 1297) Wenn alle Rechtsmittel gegen das Räumungsurteil ausgeschöpft worden sind und der GV den Räumungstermin festgesetzt hat, gibt es für Mieter nur noch eine Möglichkeit, die Vollstreckung wenigstens für eine bestimmte Zeit abzuwenden: durch Erlass eines Vollstreckungsschutzbeschlusses nach § 765a ZPO. Die Hürden hierfür sind hoch, weil nur eine durch die Vollstreckung verursachte sittenwidrige Härte für die Schuldner die Einstellung rechtfertigen kann. Hiermit befasst sich der Beschluss des Landgerichts Limburg.
Der Fall: Nachdem der 70-jährige Mieter und seine Ehefrau unter Einräumung einer Frist bis 31. März 2020 zur Räumung verurteilt wurden, setzte der Gerichtsvollzieher den Räumungstermin auf den 26. Juni 2020 fest. Die Beklagten, die Sozialhilfe beziehen, beantragten daraufhin mit unterschiedlichen Begründungen Vollstreckungsschutz, so auch unter Hinweis darauf, dass eine Ersatzwohnung u. U. ab November/Dezember 2020 angemietet werden könne. Das AG wies den Antrag zurück. Die behauptete Suizidgefahr wg. der Räumung könne nicht festgestellt werden, und das Alter des Ehemannes alleine sei kein ausreichender Grund für eine Einstellung der Räumung.

Die Entscheidung: Das LG wies die Beschwerde der Mieter zurück. Was die von der Ehefrau behauptete Suizidgefahr angehe, könne zwar davon ausgegangen werden, dass – „wie bei allen Patienten mit psychischen Vorerkrankungen“ – die generelle Gefahr der Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustandes bestünde. Konkrete Anhaltspunkte für eine räumungsveranlasste Selbstmordgefährdung seien weder vorgetragen noch durch entsprechende ärztliche Atteste belegt. Das Alter des Ehemanns allein sei„keine tragfähige Grundlage“ für Vollstreckungsschutz.

Anmerkung: Fangen wir mit dem Ehemann an: 70 Jahre, hohes Alter. Der Verfasser dieser Anmerkung ist 76 Jahre alt, möchte allerdings (deshalb?) niemals in eine solche Situation geraten wie der „erst“ 70-Jährige in der vorliegenden Entscheidung: Dreimal umgezogen ist wie einmal abgebrannt, so das Sprichwort, aber nur, wenn man es selbst in der Hand hat. Wie zu einer neuen Wohnung kommen bei einer Räumungsfrist von nur etwas mehr als zwei Monaten? Wer kann mir helfen? Was mache ich mit meinen Sachen? Fragen, die aus Sicht des Gerichts offenbar keine Rolle spielen und – leider – die Wirklichkeitsferne mancher Richter zeigen. Drohende Obdachlosigkeit sei auch kein Problem, weil die Ordnungsbehörden Ersatzwohnraum beschaffen könnten und Zeit genug war, eine neue Wohnung anzumieten. Mit der langen Zeit meint das LG wohl den Zeitraum, der seit der Kündigung im Mai 2019 verstrichen war: Auf diesen kam es jedoch nicht an, weil die Mieter, die sich gegen die Kündigung gewehrt hatten, nicht verpflichtet waren, schon ab diesem Zeitpunkt Ersatzwohnraum zu suchen; für einen etwa maßgeblichen Fristbeginn war nur auf den Zeitpunkt der Rechtskraft des amtsgerichtlichen Räumungsurteils abzustellen, der erst mit Zurückweisung der Berufung durch Beschluss vom 30. Juni 2020 eintrat. Was die Vermeidung der Obdachlosigkeit als polizeiwidrigen Zustand durch Maßnahmen der zuständigen Ordnungsbehörde angeht, lässt der landgerichtliche Beschluss jegliche Ausführungen dazu vermissen, ob und welche Behörden in Wetzlar eingeschaltet worden sind. Das aber wäre nach den vom Bundesverfassungsgericht zur Abwendung von drohenden Suiziden aufgestellten Grundsätzen notwendig gewesen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2019 - 2 BvR 2425/18, GE 2019, 789). Und schließlich durfte der Hinweis auf die Möglichkeit einer im November oder Dezember 2020 anmietbaren Wohnung nicht einfach damit, dass ja noch kein Mietvertrag vorläge (!), abgetan werden. Hier hätte die Möglichkeit bestanden, die Räumungsfrist mit der Auflage der Vorlage eines Mietvertrages bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verknüpfen: Wirtschaftliche Nachteile hätte der Vermieter nicht erlitten, weil die Miete ja nach dem unbestrittenen Vortrag der Mieter vom Sozialamt gezahlt worden wäre. Was die Ehefrau angeht, hält das Landgericht es nicht für nachvollziehbar, dass diese sich trotz psychischer Erkrankung zur Vermeidung eines Suizides nicht in eine stationäre Behandlung begeben habe: Vielleicht konnte sie das gerade wegen ihrer Erkrankung nicht als erforderlich ansehen? Auch die Corona-Pandemie soll nach Auffassung des Landgerichts einer stationären Therapiemöglichkeit nicht entgegengestanden haben: Woher weiß das Landgericht das denn? Im Ergebnis wirft das Landgericht einer psychisch beeinträchtigten Person vor, sich nicht wie ein gesunder Mensch verhalten zu haben.

Den Wortlaut finden Sie in GE 2020, Seite 1322 und in unserer Datenbank.
Autor: Hans-Jürgen Bieber


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